A110 1600S "Swissair 1971"
- Jürgen Clauss
- 1. Okt. 2022
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 24. Mai
DIE REFERENZ ALPINE A110
HISTORY
ZEITKAPSEL
Es gibt Automobile, die mehr sind als nur Maschinen – sie sind lebendige Zeugen einer vergangenen Epoche.
Diese Alpine A110 1600S ist ein solches Wunder. Im Jahr 1971 neu geordert von einem ehemaligen
SWISSAIR-Ingenieur, der in der Nähe von Genf lebte, wurde sie über Jahrzehnte hinweg mit einer Hingabe und Sorgfalt gepflegt, wie man sie heute nur noch selten erlebt. Für ihn war sie mehr als ein Fahrzeug – sie war ein treuer Begleiter, ein Stück Freiheit, ein stilles Versprechen technischer Eleganz. Fast scheint es, als wäre diese Berlinette direkt einer Zeitkapsel entsprungen – konserviert im Zustand eines Traumes, den man nie aufgeben wollte.
Der sensationell originale Erhaltungszustand lässt nur einen Schluss zu: Diese Alpine war ihm heilig.
Jedes Detail, jede Linie, jeder Klang des Motors erzählt von der Liebe eines Mannes zu seiner Maschine – diskret, schweizerisch, aber unerschütterlich.
Über den Erstbesitzer selbst liegt ein Schleier des Vergessens. Weder Name noch Adresse konnten ausfindig gemacht werden. Alles, was geblieben ist, sind flüchtige Spuren - ein abgewetzter Schlüsselanhänger und ein alter Regenschirm, beide mit SWISSAIR-Logo – stille Zeugen seiner Herkunft und seiner Geschichte. Es ist bekannt, dass er altersbedingt an Demenz erkrankte und unter die Obhut der Schweizer Behörde KESCHA kam. Mit seinem Eintritt in die Pflegeanstalt endete ein Kapitel – und öffnete ein anderes.
Als Teil seines Nachlasses – zusammen mit einer Alpine A310 – wurde auch diese 1600S schließlich durch die KESCHA zum Verkauf freigegeben. Beide Fahrzeuge tauchten auf der Webseite eines Classic-Car-Händlers im Kanton Bern auf.
Es war ein Moment des Schicksals, als ich dort auf diese Zeitkapsel stieß. Eine Begegnung, wie sie nur selten im Leben geschieht – und die ich ohne zu zögern ergriff.
BACK ON TRACK
PLUG & PLAY
Manche Fahrzeuge erzählen Geschichten von mühseliger Rettung, stundenlanger Restauration und unermüdlichem Einsatz – doch nicht dieses. Hier dürfen die Kapitel SEARCH AND RESCUE sowie BLOOD, SWEAT AND TEARS mit gutem Gewissen übersprungen werden. Denn dieses Automobil ist eine Ausnahmeerscheinung.
Keine tiefgreifenden Eingriffe, keine zerpflückte Substanz – nur die üblichen Wartungsarbeiten, wie sie bei jeder lang ruhenden Legende anfallen. Mehr war nicht nötig.
Schon beim ersten prüfenden Blick offenbarte sich etwas Magisches: Niemand hatte jemals achtlos an ihr geschraubt, keine falsche Hand hatte je versucht, sie zu “verbessern”. Sie war nie zerlegt, nie neu aufgebaut und genau darin liegt ihre stille Größe. Sie steht heute noch da, wie sie einst von den Händen der Werksmechaniker zusammengesetzt wurde, authentisch bis ins kleinste Detail, original bis zur letzten Schraube.
Einziger Eingriff: Zwei simple Gummibänder an der Heckklappe, hinzugefügt vom Erstbesitzer als zusätzliche Sicherung – mehr nicht. Ansonsten? Eine jungfräuliche Erscheinung, gehüllt in ihren allerersten Lack, mit sämtlichen Anbauteilen an ihrem Platz, als hätte die Zeit stillgestanden.
Und ja, sie trägt Spuren des Lebens – feine Kratzer, winzige Risse, kleine Bläschen. Doch diese Makel sind keine Makel. Sie sind Zeichen von Charakter, von Würde, von Geschichte. Eine Patina, so authentisch und lebendig, wie sie kein Lackierer dieser Welt je erschaffen könnte. Einsteigen. Schlüssel drehen. Losfahren.
GET OUT AND DRIVE
Eine A110 die alles kann
Es war ein Novum in meiner persönlichen Alpine-Geschichte – eine Berlinette, die sich fast widerspruchslos,
fast spielerisch, innerhalb weniger Wochen auf die Straße zurückholen ließ. Keine endlosen Nächte in der Werkstatt, kein verzweifeltes Ringen mit Technik und Zeit – nein, sie wollte wieder fahren. Sie wartete nur darauf, endlich wieder durchatmen zu dürfen.
Schon bei der ersten Ausfahrt offenbarte sich mir ein Fahrgefühl, das sich kaum mit Worten beschreiben lässt.
Das kleinere MOMO Prototipo-Lenkrad mit nur 330 mm Durchmesser fühlte sich zunächst fremd an, die Lenkkräfte schienen spürbar höher – doch dieser anfängliche Widerstand wich schnell einer neuen Form der Verbundenheit.
Die serienmäßige Lenkübersetzung in Kombination mit den schmalen Pneus verlieh der Berlinette ihre gewohnte Leichtigkeit zurück, ihr tänzelndes Wesen, das sie seit jeher so einzigartig macht.
Selbst die originalen Stoßdämpfer aus dem Jahr 1971 – vier Jahrzehnte alt! – arbeiten noch mit einer Sanftheit, die fast zärtlich anmutet. Ihre Abstimmung? Nicht schwammig, sondern geschmeidig, fast fließend – wie ein gut komponiertes Musikstück, das keine schnellen Rhythmen braucht, um zu begeistern.
Nein, diese A110 verlangt nicht nach brutaler Gewalt, nicht nach heulendem Motor und quietschenden Reifen.
Sie möchte geführt werden. Mit Respekt, mit Fingerspitzengefühl – wie eine Ballerina, die nur in der Harmonie mit ihrem Tänzer zur Höchstform aufläuft. Die neuen Michelin XAS FF Pneus unterstreichen dieses Gefühl: schmal, ja, aber mit erstaunlicher Präzision. Ihre weiche Mischung bietet Grip genau dort, wo man ihn braucht – selbst in schnell gefahrenen Kurven lässt sich jederzeit spüren: Sie bleibt bei dir. Sie verlässt dich nicht.
CAR IN DETAIL
NUR DAS ORIGINAL ZÄHLT
Customizing, Tuning, Individualisierung – sie sind allgegenwärtig. In der weit verzweigten Alpine-Szene sind Veränderungen längst zur Regel geworden. Kaum jemand hält sich heute noch an die Vorgaben, die Jean Rédélé einst mit Bedacht und Stilbewusstsein seinen Fahrzeugen mit auf den Weg gab. Seine Vision – klar, kompromisslos, von zeitloser Eleganz – wird oft ignoriert oder übermalt. Die wenigen, die den originalen Zustand schätzen und bewahren, sind heute eine kleine, fast stille Minderheit. Der laute Rest restauriert nach Gutdünken – verändert, ergänzt, überarbeitet – bis das einstige Kunstwerk kaum mehr wiederzuerkennen ist.
So sind zwar viele Berlinetten „restauriert“, doch mit dem, was einst das Werk verließ, haben sie nur noch wenig gemein. Die Essenz, der Charakter, die feine Sprache der Form – sie verschwinden Stück für Stück unter Schichten aus Lack, Fiberglas und gut gemeinter Individualisierung.
In über 35 Jahren als leidenschaftlicher Sammler und Liebhaber der Alpine A110 haben zahllose Fahrzeuge meinen Weg gekreuzt. Fast alle waren verändert – mal dezent, mal radikal. Und doch: Kein einziges, nicht ein einziges dieser Fahrzeuge konnte je den Zauber eines originalen Exemplars einfangen. Keines hatte diese stille Würde, diese unaufdringliche Schönheit, diese magnetische Anziehungskraft, die nur ein unberührtes Original entfalten kann.
Jean Rédélé selbst war – so berichten Zeitzeugen – kein Freund von Modifikationen. Für ihn war jede Alpine eine wohlkomponierte Skulptur, ein Ausdruck von Ingenieurskunst und französischem Feingefühl. Umso kostbarer erscheinen jene wenigen Fahrzeuge, die heute noch in ihrem authentischen Zustand existieren. Wie durch ein Wunder haben sie über ein halbes Jahrhundert überdauert – unbeeinflusst, unverbastelt, unvergänglich. Sie sind keine Autos mehr – sie sind Kulturgut, lebendige Geschichte. Und sie sind es wert, mit Ehrfurcht bewahrt zu werden.
Denn jede Veränderung, jede Abweichung vom Original, ist mehr als ein Stilbruch – sie ist ein Verlust. Eine stille Zerstörung des Werkes eines Visionärs. Natürlich bleibt es jedem Besitzer selbst überlassen, was er mit seinem Fahrzeug tut. Doch wenn wir beginnen, die Ikonen unserer Automobilgeschichte nach Belieben umzudeuten, verlieren wir den Maßstab. Dann wissen wir irgendwann nicht mehr, wie das Original überhaupt aussah.
Nach meiner bescheidenen Überzeugung kommt das Verfälschen eines Fahrzeugs wie der A110 einer Entweihung gleich. Es ist, als würde man der Mona Lisa ein neues Lächeln malen – in der Annahme, man könne sie damit verbessern. Eine radikale Meinung, gewiss. Doch Hand aufs Herz: Hat sich je jemand getraut, mit dem Pinsel an Leonardo da Vincis Werk heranzutreten?
Lasst uns innehalten. Lasst uns bewahren, was einst mit so viel Leidenschaft geschaffen wurde. Für Jean Rédélé. Für uns. Und für alle, die noch verstehen, dass wahre Schönheit nicht verbessert werden muss.